In unseren Kindertagen schien das Jahr 2020 für die meisten von uns in unendlich weiter Ferne zu liegen. Auf fliegende Autos werden wir wohl noch eine Weile warten müssen. Doch Machine Learning verändert die Geschäftsabläufe im Unternehmen schon heute spürbar – auch im Personalmanagement. Nun mögen einige HR-Fachkräfte behaupten, dieser Zug sei für sie längst abgefahren, oder sie bemühen die abgedroschene Redensart: „Hinterher ist man immer schlauer“. Doch das ist keine Entschuldigung. Experten sind sich einig darin, dass Machine Learning kein vorübergehender Trend ist, sondern die HR-Funktion nachhaltig prägen wird. Jetzt liegt es ganz bei Ihnen, zu handeln. Werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit, um uns zu vergegenwärtigen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, der unseres Erachtens einen Wendepunkt in einem sich rasch ändernden Umfeld markiert.
Human Resources wurde vor einigen Jahrzehnten noch als Personalabteilung bezeichnet und war, wie der Name schon sagt, vor allem für administrative Aufgaben bei der Besetzung offener Stellen, im Rahmen der Vergütung usw. zuständig. Die stärkere Gewichtung des zwischenmenschlichen Aspekts bei Mitarbeiterbeziehungen und die Erkenntnis, dass die Mitarbeiterzufriedenheit bei der Erreichung der Unternehmensziele eine wichtige Rolle spielt, führten zu der Namensänderung und – wichtiger noch – zu einer veränderten Wahrnehmung der HR-Abteilung und ihres Beitrags zum Erfolg des Unternehmens.
Die HR-Funktion entwickelt sich durch Technologie ständig weiter – von den Anfängen des Internets über Mobiltelefone und die Cloud bis hin zum aktuellen Zeitalter des Machine Learning.
Laut Richard McColl, Vice President & Partner sowie Talent Technology Practice Leader bei IBM, ging es bei den ersten durch Machine Learning unterstützten HR-Prozessen darum, enorme Mengen unstrukturierter Daten in kürzester Zeit zu verarbeiten. Auch spielte die neue Technologie vorrangig im Hinblick auf die Kandidatenerfahrung eine Rolle. Doch inzwischen sind alle HR-Prozesse und -Anwendererfahrungen von Machine Learning durchdrungen. „Es geht nicht mehr nur um solche Prozesse, die von Automatisierung, Geschwindigkeit und Effizienz profitieren. Wie entwickeln wir Supermanager? Wie treffen wir fundiertere Entscheidungen? Können wir Mitarbeitern Karrieremöglichkeiten aufzeigen, die für sie nicht offensichtlich waren, indem wir Karrierepfade mithilfe von Machine Learning auf wiederkehrende Erfolgsmuster untersuchen?“
In der Deloitte-Studie Global Human Capital Trends 2019, für die rund 10.000 HR-Fachkräfte in 119 Ländern befragt wurden, prognostizieren 80 Prozent der Befragten, dass kognitive Technologien wie das Machine Learning zunehmend an Bedeutung gewinnen werden.
Da ist es nur verständlich, dass HR-Führungskräfte genau beobachten, wie sich diese Trends auf ihren Bereich auswirken. So heißt es in der Deloitte-Studie „The Evolution of Work“: „Als wesentliches Element ihrer Geschäfts- und Strategieplanung bewerten agile Unternehmen die Kombination aus menschlichen und maschinellen Fähigkeiten auf allen Ebenen immer wieder neu. Die richtige Mischung kann sich maßgeblich auf Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Marktpositionierung eines Unternehmens auswirken.“
Machine Learning ermöglicht ein schnelleres und effizienteres Personalmanagement während des gesamten Mitarbeiterlebenszyklus. Durch Mustererkennung und Prognose künftiger Ereignisse anhand der Auswertung enormer Datenmengen steigert die Technologie die Effizienz und macht viele manuelle Aufgaben überflüssig.
Laut der IBM-Studie „The Business Case for AI in HR“ gibt es fünf wesentliche Gründe, warum HR-Organisationen KI und Machine Learning implementieren:
Diese Gründe können bei den Überlegungen zur Anschaffung einer jeden neuen Technologie herangezogen werden.
Wie Sie sehen, decken diese Gründe fast jeden Aspekt des Personalmanagements ab. Schauen wir uns beispielsweise die Anwerbung von Kandidaten mit neuen Kompetenzprofilanforderungen und das Recruiting im Allgemeinen an. Durch den Einsatz von Machine Learning können Lebensläufe und Kompetenzen offenen Stellen zugeordnet und Bewerbungen wesentlich schneller gesichtet werden, als dies manuell möglich wäre. Angesichts des steigenden Volumens und immer kürzerer Zyklen im Recruiting-Bereich ist diese Agilität entscheidend. Der Gartner Recruiting Efficiency Survey zufolge bewerben sich 25 Prozent der Kandidaten heute auf mindestens 10 Stellen. Die durchschnittliche Anzahl der auf eine Stelle eingehenden Bewerbungen ist zwischen 2012 und 2018 um 39 Prozent gestiegen. Auch müssen Recruiter heute eine größere Zahl ungeeigneter Kandidaten aussortieren: 72 Prozent der Bewerbungen sind laut Umfrageergebnissen von schlechter bis durchschnittlicher Qualität.“ Doch mit dem richtigen ML-basierten Tool können Recruiter beim Durchsehen von Lebensläufen Zeit einsparen und sich verstärkt denjenigen Kandidaten mit dem größten Potenzial zuwenden.
Auch Arbeitssuchende profitieren von Machine Learning: Statt Berge von Stellenausschreibungen durchzuarbeiten, können sie sich auf solche Angebote konzentrieren, die ihnen von einem Algorithmus vorgeschlagen werden. Uns allen wurden auf diese Weise vermutlich schon Stellen empfohlen, die wir selbst gar nicht in Erwägung gezogen hätten. Angesichts der fortschreitenden Entwicklung der zugrunde liegenden Technologie von einer reinen Schlagwortsuche hin zu einer präzisen Zuordnung von Kompetenzen zu Tätigkeitsarten werden in Zukunft immer mehr Mitarbeiter in Stellen pensioniert werden, die ihnen zu Anfang ihrer Karriere noch gänzlich unbekannt waren. Durch die Bereitstellung einer validierten Stellenhistorie auf Basis von Blockchain-Technologie könnte dieser Vorgang sowohl für Bewerber als auch für Recruiter bald sogar noch nahtloser gestaltet werden.
Im Hinblick auf Mitarbeiterbindung und -einbindung können Unternehmen die Motivation und Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter messen, indem sie Machine Learning zur Auswertung von internem Feedback einsetzen. IBM bemerkt in diesem Kontext: „Mit dieser Technologie lassen sich unstrukturierte Inhalte aus jährlichen Umfragen und Pulsbefragungen sowie die Kommunikation in sozialen Medien analysieren. Hunderttausende Kommentare können auf diese Weise binnen Stunden nach Themen ausgewertet werden.“
Durch die Bereitstellung von Empfehlungen für relevante Inhalte auf einer Learning-Plattform kann Machine Learning auch in Bezug auf kontinuierliches Lernen im Unternehmen eine Rolle spielen. Das Prinzip ist dasselbe wie bei Produkt- oder Filmempfehlungen im Unterhaltungsbereich.
Mit zunehmendem Reifegrad der ML-Technologie vervielfachen sich auch ihre Vorteile. Im Recruiting-Bereich bedeutet dies nicht nur ein allgemein kürzeres Einstellungsverfahren, sondern auch eine schnellere Einstellung von Spitzenkräften. Dazu heißt es in der IBM-Studie: „In der Vergangenheit ermöglichte uns Technologie einen schnelleren Recruiting-Prozess über das Internet. Inzwischen sind wir jedoch in der Lage, dank KI-basierter Kompetenzzuordnungen, Erfolgsprognosen und Berechnungen der voraussichtlichen Besetzungsdauer für jede beliebige Stelle in noch kürzerer Zeit die richtigen Mitarbeiter zu rekrutieren.“
Somit kann sich die HR-Abteilung verstärkt auf strategische Aufgaben konzentrieren, was bedeutende Auswirkungen für die Unternehmen hat. Das Forschungsinstitut Great Place to Work, das gemeinsam mit Fortune die Liste der „100 besten Arbeitgeber“ ermittelt, kommt hier zu folgendem Ergebnis: „In Unternehmen, in denen die HR-Abteilung nicht administrativ, sondern strategisch ausgerichtet ist, beeinflusst sie wesentlich die Unternehmensergebnisse. Ein strategisches HR-Team kann neben anderen Leistungsergebnissen einen höheren Marktanteil, eine wachsende Kundenbasis, innovativere Produkte, höhere Umsätze und die Förderung von Agilität im Unternehmen für sich in Anspruch nehmen.“
Machine Learning liefert exzellente Prognosen, doch erst durch menschliches Urteilsvermögen werden diese Prognosen interpretierbar. Die Fähigkeit, die Grenzen menschlicher Intelligenz durch eine effektive Zusammenarbeit mit Maschinen zu erweitern, wird sich als wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Automatisierung erweisen. Vor diesem Hintergrund werden HR-Führungskräfte – aber auch Manager in anderen Unternehmensbereichen – die Kompetenzanforderungen neu bewerten müssen, um in einem dynamischen Umfeld Schritt zu halten.
Einige Stellen werden möglicherweise durch Automatisierung wegfallen, doch gleichzeitig werden neue Tätigkeitsfelder entstehen und aktuelle Funktionen transformiert werden. In der Forrester-Studie „The Technology-Augmented Employee“ verweist J. P. Gownder auf ein Unternehmen, das im Zuge der robotergesteuerten Prozessautomatisierung dazu überging, „repetitive Routineaufgaben“ des Finanzbereichs von Bots erledigen zu lassen. In der Folge entstanden „strategischere und interessantere“ Tätigkeitsprofile im Finanzbereich.
Forschungsstudien von Deloitte untermauern diese Ergebnisse. Die Automatisierung bestimmter Aufgaben wirkt sich auf die Tätigkeitsprofile zahlreicher Rollen aus: „Wenn Tätigkeiten zum Teil durch maschinelle Prozesse automatisiert werden, so ist die Arbeit, die für die Mitarbeiter übrig bleibt, im Allgemeinen stärker deutungs- sowie serviceorientiert und umfasst Aspekte wie Problemlösung, Dateninterpretation, Kommunikation und Zuhören, Kundenservice und Einfühlungsvermögen sowie Zusammenarbeit. Doch diese komplexeren Kompetenzen lassen sich anders als traditionelle Tätigkeiten keinen festen Aufgabenbereichen zuordnen und forcieren daher die Schaffung von flexibleren, dynamischeren und weniger streng definierten Stellen und Rollen im Unternehmen.“ Weiter besagt die Studie, dass Maschinen bestimmte Routineaufgaben zwar automatisieren werden. Gleichzeitig werden Unternehmen jedoch gezwungen sein, ihre Arbeitsmethoden zu überdenken, um mit dem Wandel Schritt zu halten.
Für den HR-Bereich skizziert McColl eine Zukunft, in der Kompetenzen im Mittelpunkt des Personalmanagements stehen, was Unternehmen in die Lage versetzt, Mitarbeiter bei der Identifizierung neuer Karrierechancen zu unterstützen. Machine Learning, führt er weiter aus, kann Organisationen dabei helfen, die Aufgaben der Mitarbeiter, ihre mündliche und schriftliche Kommunikation und die Kunden, mit denen sie interagieren, zu analysieren. „Untersucht man diese Informationen nun mit Machine Learning darauf, über welche Kompetenzen die entsprechenden Mitarbeiter verfügen, so lassen sich daraus Karriereempfehlungen ableiten – zum Beispiel: ‚Wir haben einige Karrierepfade für Sie zusammengestellt, mit denen Sie Ihre Entwicklungsziele erreichen können.‘ Ich denke, dass darin ein ungeheures Potenzial liegt.“
Verantwortungsbewusste Unternehmen müssen zudem dafür Sorge tragen, dass Diversität und Inklusion integrale Bestandteile dieser neuen Machine Learning-Technologien sind. Barbara Cosgrove, Vice President und Chief Privacy Officer bei Workday, schreibt in einem Blog-Beitrag über die konsequente Einbindung ethischer Überlegungen in die Anwendung dieser Technologien: „Machine Learning kann menschliche Entscheidungsträger nicht ersetzen. ML-getriebene Anwendungen liefern vielmehr Prognosen, die in Kombination mit menschlichem Urteilsvermögen zu besseren Entscheidungen führen können. Doch wie bei allen neuen Technologien hängt auch hier der Erfolg davon ab, ob ihr das nötige Vertrauen entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen wiederum lässt sich nur durch verantwortungsvolle, ethisch einwandfreie Praktiken gewährleisten.“
McColl fügt hinzu, dass die menschliche Komponente den Grundstein für die Weiterentwicklung von Machine Learning legen wird. Er ist davon überzeugt, dass ML Unternehmen helfen wird, ein besseres Arbeitsumfeld zu schaffen, das in stärkerem Maße auf die einzelnen Mitarbeiter und ihre individuellen Vorlieben und Abneigungen eingeht. „Ich glaube, dass uns Machine Learning in die Lage versetzen wird, hochpersonalisierte Lösungen und Anwendererfahrungen zu schaffen. Diese Technologie bietet uns die Möglichkeit, die Anwendungen, Systeme und Prozesse, die unser Arbeitsumfeld ausmachen, stärker auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter zuzuschneiden.“
Eine Workday-Studie besagt, dass neue datengestützte Technologien wie Machine Learning bei allen Chancen, die sie bieten, auch eine massive Herausforderung darstellen, da es für Unternehmen immer schwieriger wird, mit den Kompetenzanforderungen von morgen Schritt zu halten. So planen beispielsweise 52 Prozent der Unternehmen bis 2024 Weiterqualifizierungsmaßnahmen für mehr als die Hälfte ihrer Belegschaft. Wird es ihnen gelingen, Machine Learning gewinnbringend einzusetzen und zugleich die Entwicklung nachhaltiger menschlicher Kompetenzen voranzutreiben, um marktwirtschaftlichen Mehrwert zu erzielen und ihre Sorgfaltspflicht als gute Arbeitgeber und verantwortungsbewusstes Unternehmen zu erfüllen?
Experten sind sich einig, dass sich Tätigkeitsfelder und Kompetenzen angesichts neuer fortschrittlicher Technologien wie Machine Learning weiterentwickeln müssen. Doch Thomas Malone, Experte für kollektive Intelligenz am MIT, gibt zu bedenken, dass wir beim Diskurs „Mensch versus Maschine“ bisher den falschen Schwerpunkt gesetzt haben. In einem Interview mit Deloitte erklärt er: „Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Mensch und Computer gegeneinander auszuspielen, statt uns zu fragen, wie sie sich gegenseitig ergänzen können. Wir haben viel zu viel Zeit mit der Frage vergeudet, welche Aufgaben die Computer den Menschen wegnehmen werden, und dabei völlig außer Acht gelassen, was Mensch und Computer zusammen erreichen können, das vorher nicht möglich war.“
Wenn wir einst auf den Anfang der neuen Dekade zurückblicken, möchten wir sagen können: 2020 war das Jahr der Voraussicht – das Jahr, in dem Mensch und Computer zum ersten Mal gemeinsam Ziele erreichten, die sie alleine nicht erreicht hätten.